Gespräch mit Migrationsexpertin Lale Akgün

Berufsorientierung und Arbeitsmarkt

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Interview
27.08.2011

Gespräch mit Lale Akgün, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestags und Expertin für Integrationsfragen, über Migranten, die multikulturelle Gesellschaft und Muslime.

Dr. Lale Akgün ist Deutsche türkischer Herkunft. Die Medizinerin und Psychologin ist verheiratet, Mutter einer 22-jährigen Tochter, und arbeitet derzeit als Gruppenleiterin „Internationale Beziehungen und Eine-Welt-Politik“ in der Staatskanzlei Düsseldorf. Als Autorin landete Lale Akgün 2008 mit „Tante Semra im Leberkäseland – Geschichten aus meiner deutsch-türkischen Familie“ einen Bestseller; in ihrem neuen Buch „Aufstand der Kopftuchmädchen – Deutsche Musliminnen wehren sich gegen den Islamismus“ macht sie sich stark für einen „neuen Islam, einen, der die westlichen Werte, die Werte der Französischen Revolution und der Aufklärung anerkennt“. Wir haben mit Lale Akgün über Integration gesprochen.

Frau Akgün, wenn von Integration gesprochen wird, fällt fast zwangsläufig der sperrige Ausdruck „Menschen mit Migrationshintergrund“ – haben Sie einen besseren?

Lale Akgün: Nein, aber viel wichtiger als ein Begriff ist der Inhalt, den die Menschen damit verbinden. Was also ist der Inhalt von „Migrationshintergrund“? Die 17 Millionen ADAC-Mitglieder in Deutschland fahren alle Auto, das ist ihre Gemeinsamkeit. Aber was haben die 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund gemeinsam? Was habe ich als 57-jährige Akademikerin, die aus einem türkischen Elternhaus stammt, mit einem Afghanen zu tun, der aus den Kriegswirren hierher geflohen ist? Oder mit einem afrikanischen Kind, einem Chinesen, einem Amerikaner? Natürlich gibt es gewisse Schnittmengen, aber wir bilden keine einheitliche Gruppe, die man in die eine Schublade namens Migrationshintergrund stecken kann. Jeder, der in Deutschland jünger ist als 49 Jahre, lebt hier weniger lange als ich – aber ich habe einen Migrationshintergrund.

Sie fühlen sich also eher als Deutsche?

Ich fühle mich als Frau, als Akademikerin, als Angestellte, als Feministin, als Mutter, als Gewerkschafterin, als Psychologin, Autorin, Politikerin, Ehefrau, Krimiliebhaberin – aber all das interessiert die Leute nicht, sie wollen wissen, fühle ich mich als Türkin oder als Deutsche. Aber was heißt es denn, sich als Deutsche oder Deutscher zu fühlen?

Sagen Sie es uns.

Ich glaube, dass die nationalen Identitäten in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren. Und ich wünsche mir, dass sich gerade junge Leute eher als Europäer verstehen, denn damit machen sie eine politische Aussage und bekennen sich zu einer neuen Lebensform. Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts mit seinen künstlichen Grenzen und Nationalgefühlen – gleiche Rasse, gleiche Sprache, gleiche Vorlieben – ist ein Konstrukt. Europa dagegen steht für etwas Gemeinsames, nämlich für Frieden, soziale Sicherheit, Wohlstand für alle.

Noch aber ist so ein Europa Vision. Die multikulturelle Gesellschaft funktioniert ja noch nicht einmal innerhalb Deutschlands.

Eine multikulturelle Gesellschaft braucht eine Philosophie – und genau die fehlt uns. In den USA heißt die Philosophie: Jeder ist willkommen. Aber die Amerikaner sagen auch: Nicht der Staat ist für dein Leben verantwortlich, sondern du. Amerika gibt seinen Einwanderern keinen Cent an Unterstützung, dafür aber das Gefühl, dass sie es schaffen können.

Und was macht Deutschland?

Deutschland gibt Geld, sonst nichts. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz, ohne ein gemeinsames Leitmotiv wird diese Gesellschaft schwerlich zusammenwachsen. Das ist auch der Grund, warum immer, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, die Diskussionen über mangelnde Integration oder gar Ausländerfeindlichkeit hochkommen. Der deutsche Sozialstaat ist zwar gut, aber das allein reicht nicht. Die Amerikaner sagen: Frag‘ nicht, was das Land für dich tut, sondern was du für das Land tun kannst. Das heißt nichts anderes als: Wenn du tüchtig bist, gehörst du dazu.

Um dazu zu gehören, muss man vor allem die Sprache eines Landes beherrschen...

… richtig, ohne Sprachkenntnisse geht gar nichts. Als wir nach Deutschland gekommen sind, konnte außer meinem Vater keiner in der Familie Deutsch. Mein Vater engagierte sofort einen Privatlehrer, der uns drei Mal die Woche unterrichtet hat. Außerdem bin ich ja in die Schule gegangen und meine Schwester in den Kindergarten – nach einem halben Jahr konnten wir Deutsch.

Im Gegensatz zu einem Viertel der türkischen Frauen, die zwar schon seit Jahrzehnten hier leben, aber allenfalls gebrochen Deutsch sprechen…

Das stimmt, aber seien wir ehrlich: Diese Menschen lesen auch keine türkischen Bücher. Denn die Zuwanderer der ersten Generation kamen aus sozial benachteiligten Schichten. Sie haben nur so viel Deutsch gelernt, dass sie am Arbeitsplatz zurechtkommen und ansonsten nicht anecken. Und Deutschland ist ohnehin davon ausgegangen, dass sie nach einer bestimmten Zeit in ihr Heimatland zurückgehen.

Nach offizieller Definition war Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein kein Einwanderungsland.

De facto aber ist es das schon länger. Doch man kann nicht sozial Benachteiligte ins Land holen und ihnen dann nicht beim sozialen Aufstieg helfen. Was ist denn passiert? In den siebziger Jahren sind die deutschen Arbeiterkinder durch eine staatliche Bildungsoffensive aufgestiegen – und in diese Lücke sind die Migranten gestoßen. Deshalb ist die Gesellschaft heute ethnisch unterschichtet: Wenn wir von Migranten reden, reden wir vor allem von sozial Benachteiligten.

Was also ist zu tun?

In Deutschland wird viel wertvolle Zeit vergeudet, nämlich genau die Zeit, in der Kinder besonders lernfähig sind. Deshalb ist eine Kindergartenpflicht so wichtig, deshalb brauchen wir eine Vorschulpflicht ab 4 Jahren. Nur so können wir Kindern aus sozial benachteiligten Familien eine Chance geben. Denn diese Kinder sprechen ja nicht deshalb kein oder nur schlechtes Deutsch, weil sie Türken oder Russen oder Polen sind, sondern weil sie aus Familien kommen, die keinen Wert auf Bildung legen.

Dann wäre der Staat ein Reparaturbetrieb für das, was in der Familie falsch gelaufen ist.

Natürlich kann der Staat nicht alle familiären Defizite ausgleichen. Aber wenn die Politik für solche Kinder keine Ganztagsangebote macht, dann muss sie wissen, was diese Kinder nach der Schule machen – sie sitzen zuhause vor der Glotze oder vor dem PC.

Laut Statistik haben junge männliche Migranten wesentlich mehr Probleme, sich zu integrieren, als junge Frauen.

Das stimmt, aber es gilt auch für Deutsche. In allen Institutionen, die Benachteiligte auffangen – vom Kinderheim über den Knast bis zur Psychiatrie – gibt es deutlich mehr Männer als Frauen. Bei manchen Migranten kommt noch die kulturell verankerte patriarchale Rolle hinzu, also die Vorstellung, ein Mann sei etwas Besonders. In Deutschland ist dieses Denken in den letzten dreißig Jahren weitgehend überwunden worden, Frauen sind emanzipiert. Deshalb haben es vor allem junge muslimische Männer hier schwer, denn sie sind es nicht gewohnt, sich unterzuordnen und flexibel zu sein.

Hinweis: Dieses Interview erschien zuerst in der Broschüre „Bildung, Beruf, Integration – Jugendliche Migranten in Deutschland“