Martin Uebele über Flüchtlinge in der Nachkriegszeit

Globalisierung und Europa

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Interview
22.07.2016

Der Wirtschaftshistoriker Martin Uebele von der Universität Groningen erklärt, wie Deutschland in der Nachkriegszeit 13 Millionen Flüchtlinge integriert hat.

Deutschlands Stadtzentren waren nach dem Kriegsende im Mai 1945 Trümmerhaufen. Ein Großteil der Bevölkerung war unterwegs – ausgebombt, vertrieben, geflohen oder entkommen. Bis 1960 stieg die Gesamtzahl der Vertriebenen und Flüchtlinge auf 13,2 Millionen und machte damit fast ein Viertel der westdeutschen Bevölkerung aus. Wie war es möglich, dass die Arbeitslosigkeit zu diesem Zeitpunkt nur bei 1,3 Prozent lag?

Deutschlands Startbedingungen für die weltweit aufstrebende Nachkriegswirtschaft waren viel besser als die Bilder der zerstörten Innenstädte glauben lassen. Tatsächlich hatten die alliierten Bombengeschwader gemäß einer amerikanischen Untersuchung zur Treffgenauigkeit der Fliegerbomben nicht mehr als ein Fünftel des Bestands von 1944 an Infrastruktur, Maschinen und Gebäuden zerstört. Dazu kam, dass dieser Kapitalstock durch die hohen kriegsbedingten Investitionen nicht nur deutlich größer war als vor dem Krieg, sondern auch sehr modern. Damit lag die Produktionskapazität nach Kriegsende in etwa auf dem Niveau von 1938. Die Voraussetzungen für eine rasche Wiederaufnahme der Produktion waren also gegeben, und Arbeitskräfte wurden dringend gebraucht. Die Währungsreform 1948 schuf schließlich auch die monetäre Grundlage dafür.

Und das erklärt schon das ganze Wirtschaftswunder?

Nein. Eine der wichtigsten Voraussetzungen war die Wiedereingliederung Deutschlands in das europäische Wirtschaftssystem, denn dadurch konnte Deutschland von seiner zurückgewonnenen Exportstärke profitieren. Dies wurde unter anderem erreicht durch die Europäische Zahlungsunion, die die Konvertibilität der beteiligten Währungen sicherstellte, sowie die Montanunion, die einen gemeinsamen Markt ohne Zölle für Kohle und Stahl zwischen der Bundesrepublik, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern schuf.

Nicht zu vergessen das Europäische Wiederaufbauprogramm, auch bekannt als Marshall-Plan, das auf den damaligen amerikanischen Außenminister George C. Marshall zurückgeht. Die USA wollten mit milliardenschwerer finanzieller und materieller Unterstützung zum einen den vom Krieg gebeutelten Menschen in Europa helfen, zum anderen aber auch ihre Wirtschaftspartner stärken. In Deutschland beseitigten diese Mittel schnell die anfänglichen Investitionsengpässe.

Wie ausgeprägt waren denn die Konflikte zwischen den Vertriebenen und der ebenfalls notleidenden Bevölkerung?

Es gab durchaus Konflikte aufgrund des begrenzten Wohnraums, aber auch wegen kultureller und religiöser Unterschiede. Das größte Spannungspotenzial bestand vor allem in Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, denn dort war der Wohnraum weniger stark zerstört, weshalb diese drei Bundesländer einen überproportional großen Teil der Flüchtlinge aufnahmen. Trotzdem gelang die Integration erstaunlich gut.

Und warum hielten sich die Konflikte in Grenzen?

Dazu möchte ich gerne meinen Kollegen Ulrich Herbert zitieren. Er nennt vier wichtige Gründe: Erstens konnten die Flüchtlinge nicht zurückkehren. Anders als zum Beispiel die Gastarbeiter in den fünfziger und sechziger Jahren hatten die Neuankömmlinge keine andere Heimat mehr – sie waren gekommen, um zu bleiben. Zweitens genossen sie von Beginn an volles Wahlrecht. So konnten sie schon aufgrund ihrer großen Zahl die Politik mitgestalten.

Drittens kam es schnell zu einer sozialen Durchmischung. Einige Flüchtlinge haben sich schnell hochgearbeitet. Eine doppelte Unterprivilegierung durch Fremdheit und geringes Einkommen blieb so oftmals aus. Viertens, und nicht zuletzt, spielten auch die deutsche Sprache und die im Vergleich zu späteren Einwanderungsgruppen ähnliche Kultur eine wichtige Rolle. Fremdenfeindliche Abwehrreaktionen hatten so weniger Grundlagen.