Deutschland ist kein Gründerland

Unternehmen und Markt

Gymnasien, Realschule, berufliche Schulen | Sekundarstufe I + II

Hintergrundtext
21.12.2015
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Mutige Existenzgründer mit frischen Ideen können die Wirtschaft beflügeln. In Deutschland hapert es jedoch am Gründergeist. Obwohl oder weil die Wirtschaft derzeit rund läuft?

Deutschland ist alles andere als ein Hort des selbstständigen Unternehmertums. Anders als in den USA gibt es hier kein Silicon Valley, in dem ein vielversprechendes Start-up nach dem anderen zum Großunternehmen heranwächst und, das nahezu einen kompletten Wirtschaftsraum – in diesem Fall San Francisco – dominiert. Stattdessen konzentriert sich die deutsche Szene auf städtische Ballungsräume, allen voran Berlin. Hier wurden 2017 etwa 16,8 Prozent aller Start-ups gegründet. Aber auch die Metropolregion Rhein-Ruhr und Großstädte wie München oder und Hamburg sind als Universitätsstandorte beliebte Gründerschmieden (Grafik).

Doch vor allem die Hauptstadt verzeichnete in den vergangenen Jahren Neugründungen von überregionaler oder sogar internationaler Bedeutung, insbesondere aus der Ideenschmiede der Samwer-Brüder, Rocket Internet, –das wohl populärste Beispiel ist der Online-Modeversand Zalando.

Von dem Gründungsfieber, das Deutschland in der ersten Hälfte der 2000er Jahre gepackt zu haben schien, ist heute aber nicht mehr viel übrig. Damals hatte die New Economy mit ihrem Dotcom-Boom auch hierzulande viele Start-ups hervorgebracht. Dazu kam 2003 noch das Förderinstrument „Ich AG“ als Bestandteil der Hartz-Reformen, mit denen die Arbeitslosigkeit bekämpft werden sollte. Beides zusammen bewirkte zunächst einen Anstieg der Unternehmensgründungen auf ein Rekordhoch von 572.500 im Jahr 2004. Doch in den folgenden Jahren begannen die Gründungslaune rapide zu sinken (Grafik):

Im Jahr 2014 wurden in Deutschland nur noch gut 300.000 Unternehmen gegründet.

Grund dafür ist zum einen die kräftig gekürzte Förderung: Ich-AG-Zuschüsse für zuvor arbeitslose Neu-Selbstständige werden seit Mitte 2006 nicht mehr gezahlt, und auf den als Ersatz eingeführten Gründungszuschuss besteht seit 2012 kein Rechtsanspruch mehr, sondern er ist eine – selten gewährte – Ermessensleistung.

Zum anderen ist für viele ein wesentliches Motiv für den Schritt in die Selbstständigkeit weggefallen, nämlich die Arbeitslosigkeit: Wer keine Stelle findet, macht im Zweifel ein eigenes Geschäft auf. Für diese Notgründungen aber gibt es immer weniger Kandidaten, denn die Zahl der Arbeitslosen sinkt von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2005 gab es in Deutschland noch fast fünf Millionen Arbeitslose, heute sind es nur noch gut 2,5 Millionen.

Dass viele Existenzgründungen aus der Not heraus geboren werden, legt auch der europäische Vergleich nahe (Grafik):

In Litauen, der Slowakei, Portugal und Lettland werden bis zu 274 Unternehmen pro 10.000 Einwohner gegründet – allesamt Länder, in denen die Arbeitslosigkeit entweder sehr hoch ist oder in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat.

In Deutschland dagegen entstanden im Jahr 2014 pro 10.000 Einwohner im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren lediglich 48 neue Unternehmen. Ähnlich niedrig war die Gründungsquote in Rumänien, das wie Deutschland momentan kein großes Problem mit Arbeitslosigkeit hat, und in Belgien mit einer zumindest unterdurchschnittlichen Arbeitslosenquote.

Auch die Selbstständigenquote, also der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen, hat viel mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt zu tun. Diese hängt zwar auch von Traditionen und kulturellen Unterschieden ab, aber grundsätzlich lässt sich doch feststellen, dass Länder wie Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Zypern und Irland, wo die Arbeitslosenquoten weit über dem EU-Durchschnitt liegen, mit 17 bis 36 Prozent auch entsprechend hohe Selbstständigenquoten haben.

In Italien und Portugal ist der Anteil der Selbstständigen an den Erwerbstätigen heute jedoch kleiner als vor zehn Jahren – obwohl die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit deutlich gestiegen ist. Der Einbruch der Wirtschaft im Zuge der Euro-Krise hat hier den Gründergeist eher gedämpft. Eine schwache Konjunktur bedroht eben nicht nur die Jobs der abhängig Beschäftigten, sondern macht auch Selbstständigen das (Über-)Leben schwer – und verringert die Zahl der sogenannten chancenorientierten Gründungen.


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