Leistungsgesellschaft

Die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, bewegt die Sozialwissenschaftler und unter ihnen besonders die Soziologen immer mehr: Dies gilt um so mehr als sich die moderne Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert, der soziale, technische und ökonomische Wandel fortschreitet und neue Aspekte ihrer heterogenen Wirklichkeit die Wissenschaft von der Gesellschaft faszinieren.

So wird die Akzentuierung einzelner gesellschaftlicher Ausprägungen wie etwa des Wissens, der Arbeit, der Verantwortung, des Erlebnisses, des Bürgers, des Risikos, der Desintegration oder des Postindustriellen bis hin zur Multikultur zum Präfix in der Gesellschaftstypisierung.

Gerade dieser Blickwinkel ist im Hinblick auf die gesellschaftspolitische Programmatik einer "offenen Gesellschaft" (Karl Popper) ausschlaggebend. Ob nun Wissens-, Arbeits-, oder Erlebnisgesellschaft: Allemal zeichnet sich das Konzept der "offenen Gesellschaft" unter anderem dadurch aus, dass sich die soziale Struktur nicht wie in der Ständegesellschaft auf Besitz und Herkunft gründet, sondern idealer Weise auf der individuellen Leistung: Die soziale und berufliche Positionierung (Auf- und Abstiege, Mobilität) erfolgt nach individuellen Leistungen. Der Übergang zur Leistungsgesellschaft fand etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt.

Die sozialen Systeme wie das Bildungs- und Erwerbssystem sollen möglichst wenige Barrieren beinhalten, so dass jeder unabhängig von seiner Herkunft und seinem Besitz die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs - und damit aber auch des Abstiegs - hat. Verständlicherweise sind diese Idealbedingungen nicht immer und überall gegeben. Mit der Kategorie der Leistung als Faktor sozialer Differenzierung entstanden eine Reihe von neuen Fragen: Fragen des Leistungswettbewerbs, der Leistungsprinzipien und -kriterien, der Leistungsnormierungen, der Leistungsmotivationen, der Legitimation von Leistungsansprüchen, der Leistungsgerechtigkeit und damit der Verteilung von Leistungsvergütungen.

Inzwischen wird der Leistungsgedanke weit über den Erwerbsbereich hinaus angewandt, was angesichts dieser mit der Kategorie Leistung verbundenen Fragen zu erheblichen neuen Problemen führen kann, zumal hier meist keine Markt-Bedingungen vorliegen. Als gesellschaftlich relevante Leistungsbereiche zählen heute die Eigenarbeit, die Haus- und Familienarbeit und auch die gesamte informelle Gemeinwohlarbeit.

Damit wird ein Bereich der informellen Ökonomie eröffnet. Eine solche Ausdehnung des Leistungsbegriffs bringt es mit sich, dass sich die Spannweite sozioökonomischer Aktivität nicht mehr allein auf die Erwerbsarbeit beschränkt. Ein nicht unwesentlicher Grund für diese Erweiterung der Betrachtung liegt in der pessimistischen Annahme eines "Endes der Arbeit". Man spricht daher unter anderem auch von einer "Tätigkeitsgesellschaft", um die erweiterte Perspektive anzudeuten. Wird allerdings die Bevölkerung danach gefragt, was sie mit dem Begriff "Leistung" verbindet, so nannten im Jahr 2000 sieben von zehn Befragten (71 Prozent) "Arbeit leisten".

Nach vorliegenden Untersuchungen ist davon auszugehen, dass der erwerbszentrierten Leistungsgesellschaft nicht die Arbeit ausgeht, sofern geeignete Rahmenbedingungen dies zulassen. Hierfür spricht zum Beispiel der nach wie vor hohe Fachkräftemangel in fast allen Branchen. (Me)