Ist die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Osteuropa gut für Deutschland?

Berufsorientierung und Arbeitsmarkt

Gymnasien, Realschule, Hauptschule, berufliche Schulen | Sekundarstufe I + II

Pro und Contra
27.08.2011

Holger Schäfer ist Arbeitsmarktökonom im Institut der deutschen Wirtschaft. Er sagt:

„Deutschland braucht mehr junge Menschen“

Zuwanderung stärkt die Wirtschaft des aufnehmenden Landes. Viele Staaten haben das erkannt und versuchen, die besten Köpfe der Welt für sich zu gewinnen. Diese klassischen Einwanderungsländer sind mit ihrer Strategie nicht schlecht gefahren. In Deutschland aber wehrt man sich mit Händen und Füßen gegen Zuwanderung. Das geht so weit, dass sogar die Freizügigkeit für Arbeitnehmer – eine der vier Grundfreiheiten in der Europäischen Union – so lange es ging eingeschränkt wurde. Zum Glück ist es damit nun vorbei.

Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass vor unseren Grenzen Massen von Zuwanderern nur darauf warten, in Deutschland zu Niedriglöhnen arbeiten zu dürfen. Tatsächlich ist Deutschland als Einwanderungsland nicht einmal sonderlich attraktiv. In den Jahren 2008 und 2009 haben mehr Menschen das Land verlassen als gekommen sind. Viele Osteuropäer sind längst in Großbritannien, Schweden und Irland, weil diese Länder ihre Zuzugsbeschränkungen schon früh aufgehoben haben.

Da in Osteuropa die Löhne schneller steigen als bei uns, wird die Neigung, in Deutschland zu arbeiten, langfristig ohnehin abnehmen. Nutzen wir jetzt noch die Chance, junge, ausgebildete und engagierte Menschen für unser Land zu gewinnen!

Klaus Wiesehügel ist Bundesvorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt. Er sagt:

„Dumpinglöhnen sind so Tür und Tor geöffnet“

Die volle EU-Freizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 wird für die Arbeitnehmer in Deutschland Verschlechterungen bringen. Um es vorweg deutlich zu sagen: Die Probleme verursachen nicht die Menschen, die aus Osteuropa nach Deutschland kommen. Es sind die Bedingungen, unter denen sie hier arbeiten werden, die mir Sorge bereiten. Die Politik hat es versäumt, Migranten und Pendler ausreichend vor Ausbeutung zu schützen. Die zu befürchtende Schmutzkonkurrenz wird hiesige Unternehmen mit Billigangeboten in Zugzwang bringen. Die Folge ist Wettbewerb auf dem Rücken der Arbeitnehmer.

Wer nach Deutschland entsandt wird, erhält ohnehin nur die geringeren Sozialleistungen seines Heimatlandes. Ob die zugewanderten Arbeiter die ihnen zustehenden tariflichen Leistungen auch bekommen, ist zudem fraglich. Derzeit gibt es viel zu wenig Kontrolleure. Ihre Zahl müsste um gut 5.000 aufgestockt werden. Wir Gewerkschafter werden deshalb genau hinsehen, dass Tarif- und Mindestlöhne gezahlt werden.

Diese gibt es aber nicht in allen Branchen. Dumpinglöhnen sind so Tür und Tor geöffnet. Am Ende drücken sie das allgemeine Einkommensniveau in Deutschland. Eine Absicherung nach unten kann da nur ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn bieten. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung ihre Blockadehaltung aufgibt und ebenso wie unsere europäischen Nachbarn eine verbindliche Lohnuntergrenze einzieht.