"Private Altersvorsorge unverzichtbar" - Doppelinterview zur Rente

Haushalt und Geld

Sekundarstufe I + II

Interview
22.11.2016
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Welche Stellschrauben gilt es bei der Rente zu drehen? Über ihre Vorstellungen einer zukunftsfähigen Lösung sprechen Jochen Pimpertz, Leiter des Kompetenzfelds Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung im Institut der deutschen Wirtschaft, und Eva Maria Welskop-Deffaa, die von März 2013 bis Februar 2017 Bundesvorstandsmitglied der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und dort zuständig für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs- sowie Sozialpolitik war.

Die fünf Wirtschaftsweisen schlagen der Bundesregierung vor, das Renteneintrittsalter von 67 auf 71 Jahre zu erhöhen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Dr. Jochen Pimpertz: Dafür plädieren wir schon seit längerem. Wir sind der Auffassung, dass wir innerhalb der Haltelinien, die wir mit Beitragssatz und Sicherungsniveau bis 2030 haben, gut fahren. Danach wird das aber nicht mehr reichen. Wenn wir über die bestehenden Ober- und Untergrenzen hinaus weder steigende Beitragssätze noch ein niedrigeres Rentenniveau haben wollen, bleibt uns nur die dritte Stellschraube – und das ist die Regelaltersgrenze. Wie hoch die nun absolut sein soll, hängt auch davon ab, auf welchem Niveau sich Beitragssatz und Sicherungsniveau einpendeln sollen. Wir gehen davon aus, dass nach 2030 mit 67 Jahren nicht Schluss ist, sondern wir uns in Richtung 70 bewegen. Dann wieder in einem angemessenen Zeitrahmen von zehn oder fünfzehn Jahren.

Eva Maria Welskop-Deffaa: Am 1.1.1957, vor gut 70 Jahren, trat die „große Rentenreform“ in Kraft. Im Unterschied zur Bismarck-Rente war die neue Adenauer-Rente umlagefinanziert. Die Bundesregierung nannte sie „Produktivitätsrente“, denn der Verteilungsspielraum im neuen Modell war wesentlich durch die Produktivitätsentwicklung bestimmt. Daran sollten sich die fünf Wirtschaftsweisen erinnern. Um die dynamische Adenauer-Rente als „Rente 4.0“ zukunftsfest zu gestalten, müssen wir das Augenmerk vor allem darauf richten, die Produktivität zu steigern.

In der Politik wird immer wieder davon gesprochen, eine feste Haltelinie für das Rentenniveau festzuzurren. Ist das ein guter und realistischer Ansatz?

Pimpertz: Wir haben ja bereits eine Haltelinie, die heißt 43 Prozent Mindestsicherungsniveau in der Gesetzlichen Rentenversicherung. Und wir befinden uns aktuell in der komfortablen Situation, dass wir davon noch weit entfernt sind. Im Rentenversicherungsbericht 2015 lagen wir bei einem Sicherungsniveau von 47,5 Prozent. Das heißt, wir werden auch 2030 wohl deutlich über der 45-Prozent-Marke bleiben. Diese Haltelinie sollten wir also dauerhaft beibehalten. Wir müssen hier auch immer klarmachen: Wird die Haltelinie höher gezogen, geht es nicht ohne höhere Beitragssätze oder eine höhere Regelaltersgrenze. Und steigende Beitragssätze belasten vor allem junge Menschen, die ohnehin schon durch den demografischen Wandel gefordert sind.

Welskop-Deffaa: Das Sozialgesetzbuch enthält die Zusicherung eines Mindest-Rentenniveaus: Sollte das Rentenniveau unter 43 Prozent absinken, ist der Gesetzgeber dazu verpflichtet, gegenzusteuern. Diese Haltelinie endet im Jahr 2030. Danach führt die weitere Anwendung der Rentenformel zum freien Fall. Die Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigen, dass das Rentenniveau im Jahr 2045 nur noch knapp über 41 Prozent läge. Ein solches Absinken macht das Konzept der Eigenvorsorge in der gesetzlichen Rentenversicherung zunichte. Wer ein Leben lang durch eigene Beiträge vorsorgt, muss am Ende verlässlich eine Rente oberhalb der Grundsicherung erwarten können. Daher brauchen wir eine verlängerte Haltelinie – und zwar mindestens bis 2050. Damit die heute 35-Jährigen wissen, wofür sie in den nächsten 30 Jahren Beiträge zahlen.

Müsste so wie ein Mindestniveau gleichzeitig auch eine Obergrenze für die Beitragszahler festgelegt werden?

Pimpertz: Diese Grenze muss es zwingend geben, wenn wir nicht zurückfallen wollen auf einen Diskussionsstand von vor 2001. Damals hat man die Sicherung des Rentenniveaus gleichzeitig mit der Sicherung der Beitragsseite verhandelt. Es ist doch eine Illusion zu glauben, dass man nun den Menschen, denen ohnehin schon deutlich höhere Beitragslasten zugemutet werden als den vorausgegangenen Jahrgängen, einfach noch zusätzliche Lasten aufbürden kann. Da liegt die Verantwortung jetzt auch bei den geburtenstarken Jahrgängen. Auf der einen Seite sollen und können sie die Elterngeneration versorgen, sie müssen aber eben auch Sorge dafür tragen, dass die Kindergeneration nicht überfordert wird. 

Welskop-Deffaa: Eine untere Haltelinie beim Rentenniveau und eine Obergrenze für den Beitragssatz wurden vor 15 Jahren als komplementäre Anforderungen angesehen – für einen Korridor, innerhalb dessen sich die gesetzliche Rente bewegen sollte. Ich halte das Mindestsicherungsniveau für die wichtigere Leitplanke, denn verfassungsrechtlich lässt es sich nicht rechtfertigen, Beschäftigten 45 Jahre lang Monat für Monat Beiträge abzuverlangen, wenn sie dafür anschließend nicht spürbar mehr Gegenleistung erhalten als die steuerfinanzierte Grundsicherung. Und da macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob die Beiträge lebenslang bei 19, 22 oder 25 Prozent lagen.

Von Seiten der Politik hört man immer wieder, dass private Altersvorsorge ein absolutes Muss ist. Was empfehlen Sie in diesem Punkt den Bürgern?

Pimpertz: Die ergänzende Privatvorsorge ist notwendig. Sie scheint in einer Niedrigzinsphase unattraktiv, aber es gibt keine Alternative, weil wir aus demografischen Gründen im Umlageverfahren nicht mehr Rentenansprüche versprechen können. Die bittere Konsequenz daraus: Sind die Zinsen niedrig, muss noch mehr ergänzend vorgesorgt werden. Ich tue mich allerdings schwer damit, ein konkretes Produkt hervorzuheben. Meines Erachtens bieten die einzelnen Vorsorge-Alternativen verschiedene Vor- und Nachteile. Das kann sehr stark davon abhängen, in welcher Lebenssituation man sich für eine ergänzende Altersvorsorge entschließt. Unser Rat an die Wirtschaftspolitik: Wir plädieren dafür, dass alle Produkte gleichermaßen Anreize zur Vorsorge steuerlicher Art bekommen. Der Staat ist so aus der Empfehlung konkreter Produkte raus, die nicht für jeden die beste Option darstellen. Die Diskussion um die Riester-Rente verdeutlicht doch, in welche Schwierigkeiten sich der Staat begibt, wenn er ein Produkt für besonders förderwürdig erklärt.

Welskop-Deffaa: Die gesetzliche Rentenversicherung hat sich mit der Riester-Rentenreform von der Zusage der Lebensstandardsicherung entfernt. Wer im Alter seine gewohnten Lebensbedingungen genießen möchte, kommt daher nicht umhin, in irgendeiner Form freiwillig zusätzlich vorzusorgen. Ob es vernünftiger ist, ergänzend einen privaten Rentenvertrag abzuschließen oder eine betriebliche Altersversorgung, ob die Menschen durch Aktien oder Immobilien vorsorgen, ist von den konkreten Umständen abhängig. Wichtig für mich ist, dass die ergänzende Vorsorge die gesetzliche Rente nicht „kannibalisiert". Daher lehne ich die Beitragsfreiheit der Entgeltumwandlung strikt ab. Und daher bin ich eine leidenschaftliche Befürworterin der Einbeziehung aller Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung.


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