Pflegeversicherung unter Druck

Staat und Wirtschaftspolitik

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Hintergrundtext
15.08.2018

Das Bundesgesundheitsministerium hat 2011 zum Jahr der Pflege erklärt – vor allem um deutlich zu machen, dass sich die Bundesregierung nun der längst überfälligen Reform der Pflegeversicherung annimmt. Zu den Hintergründen.

Die „soziale Pflegeversicherung“, so ihre offizielle Bezeichnung, wurde im Jahr 1995 als fünfte Säule der gesetzlichen Sozialversicherung gegründet. Zuvor hatte sich immer deutlicher abgezeichnet, dass die Bundesbürger kaum freiwillig für den Pflegefall vorsorgen – und wenn, dann in zu geringem Umfang. Immer häufiger wurde ergänzende Sozialhilfe gebraucht – die Gemeindefinanzen hätte das auf Dauer überfordert.

Seit nunmehr 16 Jahren besteht daher eine Versicherungspflicht: Grundsätzlich müssen sich alle Bürger für den Pflegefall versichern. Zuständig dafür ist die jeweilige gesetzliche Krankenkasse. Privat Krankenversicherte müssen sich auch privat pflegeversichern.

Mittlerweile hat die gesetzliche Pflegeversicherung rund 51,3 Millionen beitragszahlende Mitglieder (Stand Mitte 2010). Weitere 18,5 Millionen Familienangehörige (nicht erwerbstätige Ehepartner und Kinder) sind beitragsfrei mitversichert.

Privat pflegeversichert sind knapp 9,5 Millionen Menschen. Sie müssen für nicht erwerbstätige Familienangehörige eine extra Prämie entrichten. Zwar nehmen manche privaten Versicherungen kleine Kinder aufgrund ihres geringen Pflegerisikos auch zu einer Prämie von 0 Euro auf, trotzdem zahlen verheiratete Alleinverdiener mit älteren Kindern an die private Pflegeversicherung etwas mehr als den Höchstbeitrag im gesetzlichen System.

Steigende Lebenserwartung, mehr Pflegefälle

Meist sind es ältere Menschen, die auf die Pflegeversicherung angewiesen sind. So bezieht nicht einmal 1 Prozent der bis zu 50-jährigen Versicherten Leistungen aus der Pflegekasse. Jenseits der 50 hingegen wächst das Pflegerisiko – erst langsam, dann immer schneller:

  • In der Altersgruppe der 60-bis 64-Jährigen bekommen 2 Prozent Pflegehilfen, in der Altersgruppe von 70 bis 75 Jahren sind es schon 5 Prozent, für die meisten gilt Pflegestufe 1.
  • Von den 80- bis 84-Jährigen nimmt schon knapp jeder Fünfte Versicherte Leistungen aus der Pflegeversicherung in Anspruch, mehr als die Hälfte benötigt „nur“ Stufe 1.
  • Jenseits der 90 Jahre ist beinahe jeder zweite auf Pflegeleistungen angewiesen. Bei den Hochbetagten überwiegen außerdem Pflegestufe 2 und 3.

Die steigende Lebenserwartung stellt die Pflegeversicherung vor besondere Herausforderungen: Immer mehr Menschen erreichen ein Alter, in dem sie möglicherweise nicht mehr allein zurechtkommen oder ihnen gar Bettlägerigkeit droht. Heute sind 2,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig (Stand März 2011). In welchem Ausmaß der Versorgungsbedarf zunimmt, lässt sich auf Basis von sogenannten Bevölkerungsvorausberechnungen abschätzen. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und das Statistische Bundesamt in Wiesbaden prognostizieren unabhängig voneinander beide fast eine Verdoppelung der Pflegefallzahlen bis zum Jahr 2050.

Das IW rechnet für das Jahr 2050 mit 4,1 Millionen Pflegebedürftigen. Dabei unterstellen die Wissenschaftler, dass sich das altersabhängige Pflegefallrisiko in den kommenden Jahrzehnten nicht verändert. Die Wiesbadener Statistiker kommen unter derselben Annahme sogar auf 4,5 Millionen Pflegefälle.

Ob das Pflegerisiko tatsächlich unverändert bleibt, ist jedoch nicht sicher. Eine gesundheitsbewusste Lebensweise und der medizinische Fortschritt können nämlich nicht nur dazu beitragen, dass die Menschen länger leben, sondern auch dazu, dass sie gesünder altern und erst viel später pflegebedürftig werden. Das Statistische Bundesamt hat diese Variante ebenfalls durchgespielt und kam damit für das Jahr 2050 auf 3,8 Millionen Pflegefällen. Das sind allerdings immer noch 1,4 Millionen Pflegebedürftige mehr als heute.

Problematisches Umlageverfahren

Der enorme Anstieg der Pflegefallzahlen im Laufe der nächsten 40 Jahre wird für die soziale Pflegeversicherung vor allem deshalb zum Problem, weil sie genau wie die Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren funktioniert. Dabei werden die laufenden Ausgaben aus den jeweils aktuellen Beitragseinnahmen finanziert. Private Versicherungen dagegen wenden das Prinzip der Kapitaldeckung an: Sie bauen aus den Versicherungsprämien einen individuellen Kapitalstock auf, aus dem später die Leistungen gezahlt werden.

Das Umlageverfahren wird durch den demografischen Wandel von zwei Seiten in die Zange genommen:

  • Die Zahl der Pflegefälle steigt. Schon das führt zu einem kontinuierlich steigenden Ausgabenvolumen. Hinzu kommt noch, dass die Leistungssätze ab 2015 regelmäßig an die Preisentwicklung angepasst werden müssen.
  • Die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Weil die Geburtenrate in Deutschland schon seit langem sehr niedrig ist (1,4 Kinder pro Frau), wird es in künftig immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter geben. Zwar entrichten auch Rentner Beiträge an die Pflegeversicherung, allerdings zahlen Erwerbstätige aufgrund höherer beitragspflichtiger Einkommen deutlich mehr ein. Eine sinkende Zahl von sozialversicherungspflichtigen (Vollzeit-) Beschäftigten bedeutet für die Pflegeversicherung also Einnahmeeinbußen.

Noch geht die Rechnung auf: Die Pflegeversicherung hat in den vergangenen Jahren Überschüsse erwirtschaftet und konnte ein Polster von zuletzt 5,1 Milliarden Euro oder umgerechnet 2,3 Monatsausgaben ansparen. Das ist jedoch weniger beruhigend, als es scheint. Zum einen war die Reserve in den Anfangszeiten der Pflegeversicherung mit knapp 4 Monatsausgaben schon einmal deutlich komfortabler. Zum anderen hat sich die aktuelle Rücklage lediglich durch den 2005 eingeführten Sonderbeitrag für Kinderlose und vor allem durch die Beitragssatzerhöhung im Jahr 2008 von 1,7 auf 1,95 Prozent angesammelt. Hinzu kommt noch: Das Polster ist längst verplant. Das Geld wird verwendet, um die stufenweise Anhebung der Pflegesätze bis zum Jahr 2012 zu finanzieren. Wenn ab 2015 dann alle Leistungssätze regelmäßig mit der Inflationsrate fortgeschrieben werden, wird der nächste Beitragsanstieg nicht lange auf sich warten lassen.

Wie hoch genau die Beitragssätze künftig ausfallen, hängt ganz davon ab, wie viele Erwerbsfähige in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich arbeiten, wie hoch also die Erwerbsbeteiligung ist, und wie sich Arbeitslosigkeit sowie Löhne entwickeln. Die meisten Prognosen kommen bei unveränderten Pflegeleistungen auf 4,5 bis 5 Prozent im Jahr 2050, manche sogar auf deutlich mehr.

Beitragssatzerhöhungen sind keine Dauerlösung

Dass sich die Beitragssätze in Zukunft mehr als verdoppeln könnten, ist aus zwei Gründen besorgniserregend:

  • Nettolöhne sinken, Arbeitskosten steigen. Steigende Beitragssätze haben zur Folge, dass den Arbeitnehmern netto weniger von ihrem Bruttolohn übrig bleibt. Das lässt sich auch nicht so einfach mit Lohnerhöhungen ausgleichen: Da die Arbeitgeber die Hälfte des Pflegebeitrags zahlen, haben sie ohnehin höhere Lohnnebenkosten zu tragen. Dadurch verteuert sich die Beschäftigung am Standort Deutschland, was wiederum eine steigende Arbeitslosigkeit nach sich ziehen könnte.
  • Nachfolgende Generationen werden benachteiligt. Junge Menschen müssen für eine vergleichbare Versorgung im Laufe ihres Lebens deutlich mehr in die Pflegeversicherung einzahlen als die älteren Generationen. Gut stehen all jene da, die seit 1995 den vollen Versicherungsschutz genießen, zu diesem Zeitpunkt aber schon auf ein langes Erwerbsleben ohne Pflegeversicherungsbeiträge zurückblicken konnten. Wer dagegen erst 1995 oder später angefangen hat zu arbeiten, zahlt bereits sein gesamtes Berufsleben lang in die Pflegekasse ein. Immerhin profitiert diese Generation noch von den bislang relativ niedrigen Beitragssätzen. Alle jedoch, die erst in einigen Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein werden, müssen von Anfang an mit höheren und weiter steigenden Beiträgen rechnen.

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