Industrie 4.0: Arbeiten in der smarten Fabrik

Unternehmen und Markt

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Hintergrundtext
21.08.2018

In der Fabrikhalle von morgen sollen sich Maschinen und Roboter über das Internet und Funkverbindungen so weit wie möglich selbst organisieren. Was das für die Beschäftigten bedeutet, darüber hat die Wirtschaftszeitung AKTIV mit Thomas Leubner gesprochen, dem Verantwortlichen für die Aus- und Weiterbildung im Siemens-Konzern.

„Industrie 4.0“ steht für eine „vierte industrielle Revolution“. Kommen wirklich so dramatische Umwälzungen auf uns zu? Wann passiert das, wie lange dauert’s?

Leubner: Für die Industrie geht es auf den ersten Blick um normalen Fortschritt: mehr Automatisierung, mehr Digitalisierung – zwei Themen, die wir schon sehr lange kennen. Trotzdem ist das, was jetzt geschieht, in der Summe mit Sicherheit revolutionär! In den nächsten fünf bis zehn Jahren kommen ganz erhebliche Veränderungen auf die Arbeitswelt zu.

Was dürften – aus Sicht der betroffenen Beschäftigten – die zentralen Punkte sein?

Es wird viel mehr in vernetzten Systemen gearbeitet werden, alle Produktionsschritte werden viel stärker miteinander verbunden sein. Jedem Mitarbeiter steht eine deutlich größere Menge an Informationen zur Verfügung. Auf der anderen Seite werden einfachere Tätigkeiten zunehmend digital unterstützt, dadurch werden sich Prozesse verändern.

Wie geht Siemens das Thema an? Wie schafft man das für mehr als 340.000 Mitarbeiter?

Wir arbeiten seit eineinhalb Jahren schon daran, festzustellen, wie sich die Arbeitswelt konkret und im Detail verändern wird. Dafür haben wir die am weitesten entwickelten Fabriken unter die Lupe genommen, dazu gehört übrigens auch unser Elektronikwerk im bayerischen Amberg. Wir haben diskutiert, wie sich diese heute schon sehr stark digitalisierten Fabriken weiterentwickeln. Und gefolgert, welche Fähigkeiten dort in Zukunft gebraucht werden. Dadurch haben wir ein sehr klares Bild davon, welche Kompetenzen wir wem in Zukunft stärker vermitteln müssen.

Heißt das zugespitzt, dass bald alle Siemens-Mitarbeiter noch mehr können sollen?

Wir haben 25 Kompetenzen definiert, die besonders relevant sind, von Cloud Computing über Projektmanagement und Medienkompetenz bis hin zur Robotik. Nicht alles ist in jedem Job gleichermaßen gefragt – aber überall müssen die nötigen Kompetenzen in Zukunft stärker ausgeprägt sein. Das heißt nicht unbedingt, dass ein Arbeitsplatz schwieriger wird. Es fallen ja auch Aufgaben weg: Zum Beispiel kann ein Techniker heutzutage sofort alle wichtigen Daten online abrufen, die er sich früher erst mühsam per Telefon oder E-Mail zusammensammeln musste.

Was bedeutet das jetzt für die „Arbeit 4.0“ – mehr Stress oder weniger Stress?

Arbeit wird anders. Es kann sein, dass man mehr oder andere Dinge verstehen muss. Dazu ein Beispiel: Wenn Sie Musik streamen, gehen Sie per App auf eine Plattform und können sich jedes beliebige Stück sofort anhören. Früher war die Aufgabe: Finde heraus, auf welcher CD das Musikstück ist, gehe in den Laden und kaufe diese CD.

… oder bestelle die Scheibe und warte dann ein paar Tage …

Genau. In Summe ist die Anforderung, einen Streamingdienst zu benutzen, mit Sicherheit geringer als die Anforderung, eine CD zu kaufen. Der Unterschied ist: Man muss mit einem Smartphone umgehen können und in der Lage sein, einen Account einzurichten.

Alles geht immer schneller … Macht nicht schon das allein die Arbeit anstrengender?

Nein, die Belastung für den einzelnen Mitarbeiter muss deshalb nicht größer werden.

Account, Streaming, Smart Factory, Mass Customization und so fort: Wird Englisch in der Industrie noch wichtiger?

Englisch ist aus meiner Sicht inzwischen eine Basiskompetenz, genauso wie zum Beispiel Mathematik oder Deutsch. Wer als junger Mensch nicht ausreichend Englisch spricht, der beschränkt mit Sicherheit seine Entwicklungsmöglichkeiten.

Noch mal zurück zu Ihrem Werk in Amberg: Als die Bundeskanzlerin dort im Februar 2015 zu Gast war, wirkte die Halle ziemlich leer …

Das ist keine menschenleere Fabrik. Die Zahl der Mitarbeiter dort – rund 1.200 – hat sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Wobei sich die Produktivität etwa verachtfacht hat! Das zeigt die Chancen, die Industrie 4.0 bietet, um die Arbeitsplätze unserer Facharbeiter und Ingenieure zu sichern.

Für die ungelernten Kräfte sieht es also schlechter aus?

Da werden mit Sicherheit Arbeitsplätze wegfallen. Weil standardisierte Arbeiten weniger werden und viele davon durch Roboter ersetzbar sind. Aktuell hat noch jeder achte Beschäftigte der deutschen Metall- und Elektro-Industrie keinerlei Berufsabschluss! Ich kann jedem einzelnen Schüler nur dringend raten, eine gute und solide Berufsausbildung anzustreben.

Ist unsere duale Ausbildung denn noch gut genug für das 21. Jahrhundert?

Die heutige Facharbeiterausbildung ist eine hervorragende Basis. Wer Elektroniker lernt oder Mechatroniker, ist mit Sicherheit sehr gut gerüstet. Aber: Lebenslanges Lernen ist wichtiger denn je. Nur laufende Weiterbildung wird die eigene Beschäftigungsfähigkeit sichern. Da sind natürlich auch die Unternehmen gefordert. Wir haben erkannt, dass viele Kompetenzen erst noch vermittelt werden müssen. Für die Weiterbildung unserer Mitarbeiter in Deutschland haben wir auch deshalb allein im Vorjahr 104 Millionen Euro ausgegeben.

Das Interview erschien zuerst in der Wirtschaftszeitung Aktiv