Deutschlands Bevölkerung verschätzt sich erheblich

Staat und Wirtschaftspolitik

Sekundarstufe I + II

Hintergrundtext
30.09.2021
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Bei vielen wirtschaftspolitischen Themen neigen die Bundesbürger zu stark pessimistischen Fehleinschätzungen – besonders jene, die ihr Wissen vornehmlich über soziale Medien beziehen. Sie sind außerdem häufiger unzufrieden mit der Demokratie, wie sie in Deutschland besteht, und wählen eher populistisch.

Wie viel Prozent der Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht und wie viele sind arbeitslos? Mit insgesamt sechs Schätzfragen hat das Institut der deutschen Wirtschaft gemeinsam mit der Ruhr-Universität Bochum den Wissenstand bei sozio-ökonomischen Themen abgefragt – zum einen repräsentativ bei knapp 1.100 Personen deutschlandweit, zum anderen bei fast genauso vielen Bürgern aus dem Ruhrgebiet; gefördert wird das Projekt von der Brost-Stiftung.

Das Ergebnis für Deutschland zeigt, dass die Bevölkerung zu erheblichen Fehleinschätzungen neigt – in vielen Fragen geht sie von einer deutlich schlechteren Lage aus, als es in Wirklichkeit der Fall ist.

Ein Beispiel liefert das Thema Armutsgefährdung. Hier betrachtet die Studie unter anderem den Median der Antworten, also die Antwort exakt in der Mitte der nach ihrer Größe gereihten Werte (Grafik):

Die Befragten glauben im Median, dass in Deutschland 30 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht sind. Laut Statistik sind es aber nur 16 Prozent.

Bei der Frage nach armutsgefährdeten Rentnern ist der Unterschied noch größer – hier liegt die Schätzung bei 50 Prozent, der tatsächliche Wert hingegen bei 17 Prozent.

Gravierende Fehleinschätzung der Arbeitslosenquote

Wie weit entsprechende Fehleinschätzungen reichen, zeigen zwei andere Werte: das erste und das dritte Quartil. Sie geben auf der einen Seite an, unter welchem Prozentwert das niedrigste Viertel der Antworten liegt, und auf der anderen Seite, über welchem Wert die wertmäßig höchsten 25 Prozent der Antworten liegen. Das bedeutet zum Beispiel:

Weniger als 25 Prozent der Befragten schätzten im Sommer 2020 die Arbeitslosenquote näherungsweise korrekt ein.

Zugleich glaubten 25 Prozent, dass mindestens 63 Prozent der in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger arbeitslos sind – in Wirklichkeit waren es nur 16 Prozent.

Auch bei zwei weiteren Fragen, in denen es um die Entwicklung der Kriminalität und der CO2-Emissionen ging, schätzte eine Mehrheit der Befragten, dass die Situation in den vergangenen Jahren bestenfalls gleichgeblieben ist. Nur eine Minderheit gab – korrekterweise – an, dass sowohl die Kriminalitätsrate als auch die Emissionen in den letzten Jahren gesunken sind.

Bei diesem verzerrten Blick auf die Lebenswirklichkeit überrascht besonders ein anderer Studienbefund:

Die starken Fehleinschätzungen liefern keine Erklärung dafür, wie zufrieden die Befragten mit ihrem eigenen Leben sind.

Wenn unterschiedliche Bildungsniveaus und Sorgen um die eigene finanzielle Situation herausgerechnet werden, spielt es für die subjektive Lebenszufriedenheit keine Rolle, ob die Studienteilnehmer von 5 oder 35 Prozent Arbeitslosen ausgehen. Anderes gilt mit Blick auf die Demokratie:

Jene Befragten, die Arbeitslosigkeit, Armutsgefährdung und weitere Faktoren besonders stark falsch einschätzen, sind signifikant unzufriedener mit der Demokratie und dem sozialen Sicherungssystem.

Diese sich potenziell gegenseitig verstärkenden Zusammenhänge können den sozialen Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt belasten.

Wer sich über klassische Medien informiert, schätzt ökonomische Sachverhalte öfter korrekt ein

Ein probates Gegenmittel sind umfassende, ausgewogene Informationen. Doch die erreichen offenbar längst nicht alle Bundesbürger:

Nur gut 8 Prozent der Befragten beantworteten vier oder mehr der sechs Schätzfragen innerhalb einer Fehlertoleranz von plus/minus 5 Prozentpunkten korrekt.

Es zeigt sich aber auch, dass diejenigen besser abschneiden, die ihre politischen Informationen über klassische Medien beziehen:

Bei jenen Bundesbürgern, die eher soziale Medien zur Informationsbeschaffung nutzen, haben 37 Prozent keine einzige der Schätzfragen – mit entsprechender Fehlertoleranz – richtig beantwortet; bei jenen, die sich vorwiegend über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk informieren, galt dies hingegen nur für 23 Prozent.

Obwohl sich aus diesen Befunden keine kausalen Beziehungen ableiten lassen, sind die Ergebnisse politisch relevant. Denn sie zeigen bei näherer Betrachtung, dass die pessimistischen Fehleinschätzungen bei Anhängern der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) besonders stark ausgeprägt sind.

AfD-Wähler liegen teilweise besonders weit daneben

Diese vermuten vor allem bei der Altersarmut sowie bei der Arbeitslosigkeit unter Ausländern wesentlich höhere Quoten als Sympathisanten anderer Parteien. Und auch beim Thema Kriminalität haben sie eine deutlich pessimistischere Einschätzung:

Rund 45 Prozent der AfD-Anhänger sagen, dass die Kriminalität in den letzten Jahren stark gestiegen ist – gegenüber 14,5 Prozent der übrigen Befragten.

AfD-Anhänger nutzen zu mehr als 41 Prozent besonders die sozialen Medien zur politischen Information, in der sonstigen Bevölkerung sind es lediglich 24 Prozent.

Die Studienergebnisse liefern also Argumente für alle, die sozio-ökonomische Bildung systematisch im schulischen Fächerkanon verankern wollen. Zudem zeigen sie, wie wichtig es ist, dass in der Schule, aber auch bei Erwachsenen die sogenannte digitale Souveränität massiv gefördert wird: Alle Bundesbürger müssen lernen, digitale Informationsquellen zu überprüfen und einzuordnen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf iwd.de.