Gemeinwohl

Die Vielschichtigkeit des Begriffs Gemeinwohl erschwert einfache und griffige Definitionen. Jede Politik nimmt auf das Gemeinwohl Bezug.

Aus philosophischer Sicht wird argumentiert, dass der Mensch nur durch die Gemeinschaft seine Menschwerdung erfahren kann (soziale Natur des Menschen). Gemeinsame Ziele und Werte begründen Gemeinschaften und Identitäten bis hinauf zum Staat. Indem das Gemeinwohl von Wertesystemen abhängt, sind mit ihm auch weltanschauliche Elemente verbunden.

Das Gemeinwohl steht für das allgemeine Wohl des Ganzen und betrifft das Gesamtinteresse einer Gemeinschaft, Gesellschaft oder auch im äußersten Fall das der Weltgemeinschaft insgesamt und unterstellt einen Konsens über Ziele, Mittel und Wege. Häufig wird aber übersehen, dass in pluralen und offenen Gesellschaften vielfältige Interessen und Ziele existieren. Daher ist seine inhaltliche Bestimmung stets hiervon abhängig und deshalb schwierig.

Fraglich ist, ob das Gemeinwohl einfach die Summe der Einzelinteressen ist oder eine eigene Qualität hat. Das Gemeinwohl ex ante zu bestimmen, kann zur Bevormundung freier Menschen führen. Es stellt sich stets die Frage, ob politische Maßnahmen letztlich wirklich dem Gemeinwohl dienen.

Der Liberalismus sieht in der Realisierung individueller Freiheit den besten Beitrag zum Gemeinwohl, der sich als das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Zahl von Menschen darstellt. Eigennutz und Gemeinwohl schließen sich daher hier nicht aus, vielmehr führt die Verfolgung der eigenen Interessen durch die "unsichtbare Hand" (Adam Smith) letztlich auch zum Gemeinwohl. Nach liberalen Auffassungen (John Locke) stellt sich das Gemeinwohl erst im Vollzug der politischen Willensbildung heraus (Konkurrenztheorie). Das Gemeinwohl verlangt daher nach einer politischen Mitwirkung in einer staatlichen Gemeinschaft. Während geschlossene Gesellschaften auf einer für alle verbindlichen Weltanschauung beruhen, ist in offenen Gesellschaften das Gemeinwohl also erst Ergebnis eines dynamischen und pluralen Willensbildungsprozesses; Bestehendes wird überprüft und Neues kann sich entfalten.

Hingegen strebte der Sozialismus durch solidarische Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit zum Gemeinwohl, wozu es des Klassenkampfes und der Abschaffung des Privateigentums bedurfte, um eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen.

Für die katholische Soziallehre ist das Gemeinwohl - basierend auf dem Rechts-Prinzip der Subsidiarität und auf einer ständigen Wechselbeziehung zum Einzelwohl - ein notwendiges Gut der Gemeinschaft, dass über allen Interessengegensätzen und Sozialkonflikten steht. Das Gemeinwohl ist danach, wie auch das Einzelwohl, ein sogenannter "Dienstwert" (Nell-Breuning), also kein Wert an sich; es geht aber niemals einem Einzelwohl voraus.

Sicher können gegenüber dem Gemeinwohlbegriff auch kritische Argumente angeführt werden: Unter Berufung auf das Gemeinwohl kann Herrschaft ausgeübt werden und Bürger mit abweichenden Vorstellungen können ausgegrenzt werden. Es können soziale Konflikte zwischen Randgruppen und der Bürgermehrheit entstehen. Sind Interessen nicht ausreichend organisiert, ist ihr Einfluss auf den Willensbildungsprozess meist nur gering. Es kommt mithin mehr und mehr auf die Art und Weise an, wie politische Entscheidungsprozesse verlaufen.

Besonders vor dem Hintergrund der Globalisierung der Wirtschaft und dem Struktur- und Wertewandel wird immer wieder mehr Gemeinwohl eingefordert und der Sozialen Marktwirtschaft bzw. den Marktmechanismen die Fähigkeit abgesprochen, dem Gemeinwohl ausreichend zu dienen. Es wird deshalb die Stärkung der Bürger- bzw. der Zivilgesellschaft gefordert, d.h. die Mitglieder der Gesellschaft sollen sich verstärkt dem Nächsten zuwenden und Mitverantwortung durch Mitgestaltung übernehmen. So wird auch von den Unternehmen ein stärkeres freiwilliges Engagement für das Gemeinwohl eingefordert -ungeachtet der Tatsache, dass sich eine Vielzahl von kleineren und mittleren Unternehmen sowie etlichen Großunternehmen im Rahmen der Wahrnehmung von "Corporate social responsibility" für die Gesellschaft einsetzen.

Die Umsetzung des Gemeinwohlgedankens ist längst nicht mehr nur Aufgabe des Staates, sondern in wachsendem Maße Ziel nicht-staatlicher Organisationen im intermediären Bereich geworden. Auch auf kommunaler Ebene wird um den Bürger und sein freies Engagement mehr und mehr geworben. Letztlich führte die finanzielle Krise des Sozialstaates auch zu einer Neudefinition von Sozialpolitik und dies bestimmte ebenso das Subsidiaritätsprinzip neu. Neben der Renaissance der Verbände, die das sozialpolitische Terrain weitgehend dominieren, greift man zunehmend auf aus der Nachkriegszeit und der Entwicklungshilfe bekannte Selbsthilfekonzepte zurück und stützt sich auf bestehende (Bürger)-Initiativen und Vereine. Institutionen dieses "Dritten Sektors" zwischen Markt und Staat können auch als subsidiäre "non-market social institutions" verstanden werden. Sie entstehen (teilweise spontan) dadurch, dass vom Markt nicht alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt werden beziehungsweise bestimmte Güter und Dienstleistungen eher von nicht-gewinnorientierten als von gewinnorientierten Organisationen bereitgestellt werden. Sie tragen dazu bei, dass freie Märkte trotz ihrer Unvollkommenheit funktionieren und können als notwendige Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung des Individuums betrachtet werden. Dies gilt in erster Linie für all diejenigen, die mehr oder weniger daran gehindert sind, am Marktprozess teilzunehmen. Zweifellos ist dieser Sektor daher eine bedeutende Ressource für die Entfaltung der Freiheit des Einzelnen, der Verbesserung und einer "gerechten" Verteilung von "Lebenslagen". (Me)